Warum konstante Kohlenhydratzufuhr ein veraltetes Konzept ist
Lange Zeit lautete die Empfehlung im Ausdauersport: Viel trainieren, viel Kohlenhydrate essen. Morgens Müsli, mittags Pasta, abends Reis: unabhängig davon, was im Training eigentlich ansteht. Das funktioniert, solange du jung bist, viel verträgst und deine Ziele moderat sind. Spätestens wenn du ambitionierter wirst, stößt dieses Schema an seine Grenzen.
Moderne Leistungsdiagnostik zeigt: Entscheidend ist nicht nur, wie viel Kohlenhydrate du zuführst, sondern wann und wofür. Trainingsanpassungen entstehen nicht von allein. Sie sind das Ergebnis aus Reiz und verfügbarer Energie. Genau hier setzt Kohlenhydrat-Periodisierung an.
Statt konstant zu viel oder chronisch zu wenig zu essen, passt du deine Makronährstoffe an die täglichen Trainingsanforderungen an. Niedrigintensive Tage werden eher protein- und fettbasiert geplant, hochintensive Einheiten bewusst mit Kohlenhydraten unterstützt. Ziel ist eine höhere metabolische Flexibilität: Dein Körper soll lernen, bei niedriger Intensität primär Fett zu nutzen und bei hohem Tempo schnell und effizient auf Kohlenhydrate umzuschalten.
Studien wie die von Marquet et al. (2016) an Triathleten und die Arbeiten von Podlogar & Wallis (Fuel for the Work Required) zeigen: Strategische "Train-Low"-Ansätze können Zeitfahrleistung, Radökonomie und metabolische Anpassungen verbessern. Aber nur wenn sie zum richtigen Zeitpunkt und mit ausreichend Trainingsbasis eingesetzt werden.
Das Problem: Entweder immer High-Carb oder chronisch Low-Carb
In der Praxis landen viele Athleten in einem von zwei Extremen:
- Immer High-Carb: Jeder Tag sieht gleich aus – viel Brot, Pasta, Gels. Du bist selten im Energiedefizit, aber dein Fettstoffwechsel bleibt unterfordert. Du bist abhängig von ständiger Zufuhr und "bonkst" schnell, wenn die Versorgung im Wettkampf nicht perfekt läuft.
- Chronisch Low-Carb: Aus Angst vor Kohlenhydraten oder mit Blick auf Körpergewicht wird dauerhaft reduziert. Die Folge: Schlechte Trainingsqualität, Schlafprobleme, erhöhte Infektanfälligkeit und im schlimmsten Fall Anzeichen von RED-S (Relative Energy Deficiency in Sport).
Beide Extreme haben gemeinsam: Sie ignorieren die Trainingsanforderung. Ein 30-Minuten-Entlastungslauf braucht andere Kohlenhydratmengen als 5x8 Minuten im Bereich oberhalb der Schwelle. Wenn du immer gleich isst, verschenkst du Potenzial im Stoffwechsel und in der Performance.
Hinzu kommt: Viele Athleten versuchen Kohlenhydrat-Restriktion zu früh. Ohne stabile Grundlagenausdauer und ohne gefestigte Trainingsroutine führt ein aggressives "Train Low" fast immer zu schlechteren Einheiten, Frust und unnötigem Stress für den Körper.
Die Lösung: Fuel for the Work Required
Das Grundprinzip ist simpel: Du gibst deinem Körper genau so viel Kohlenhydrate, wie die geplante Einheit erfordert. Nicht mehr und nicht weniger. An leichten Tagen senkst du die Zufuhren bewusst, um den Fettstoffwechsel zu fordern. An harten Tagen versorgst du dich gezielt, um Qualität und Anpassung zu maximieren.
1. Niedrigintensitätstage: 2–4 g KH/kg & metabolische Signale
An ruhigen Tagen, in lockeren Läufen oder GA1-Ausfahrten brauchst du keine vollen Glykogenspeicher. Hier liegt der Fokus auf Fettoxidation und aktiver Regeneration. Typische Strategien:
- Gesamte Kohlenhydratzufuhr: ca. 2–4 g/kg Körpergewicht.
- "Train-Low": Abendliche Einheit mit höherem Kohlenhydratverbrauch, danach kohlenhydratreduziertes Abendessen und am Morgen eine lockere, kurze Session mit niedrigen Glykogenspeichern.
Wichtig: Auch an Low-Carb-Tagen müssen Protein (ca. 1,6–2,2 g/kg) und Gesamtenergiezufuhr stimmen. Low-Carb darf nicht automatisch Low-Calorie bedeuten.
2. Hochintensitätstage: 6–8 g KH/kg & Qualität sichern
Intervalle an oder über der Schwelle, VO₂max-Einheiten oder längere Einheiten brauchen Kohlenhydrate. Hier sicherst du die Trainingsqualität:
- Gesamte Kohlenhydratzufuhr: ca. 6–8 g/kg Körpergewicht (bei sehr hohen Umfängen bis 10 g/kg).
- Vor der Einheit leicht verdauliche Kohlenhydrate (z.B. Toast, Banane, Riegel).
- Während der Belastung 30–60 g KH pro Stunde, bei sehr langen oder intensiven Einheiten bis zu 90 g/h.
- Nach der Einheit Kombination aus Kohlenhydraten und Protein, um Glykogen zu füllen und Regeneration zu starten.
Marquet et al. (2016) zeigten bei Triathleten: Eine gezielte Kohlenhydrat-Periodisierung über drei Wochen mit Train-Low-Elementen verbesserte die Radökonomie und 10-km-Laufleistung stärker als ein konstant hohes Kohlenhydratregime. Und das bei gleicher Gesamtzufuhr über den Tag.
3. Sleep-Low-Strategie: gezielt, nicht dauerhaft
Eine bekannte Variante ist das "Sleep Low"-Protokoll:
- Abend: Erschöpfende, eher hochintensive Session mit normaler Kohlenhydratzufuhr vor und während der Einheit.
- Nach der Einheit: Protein- und fettreiches, aber kohlenhydratarmes Abendessen.
- Am Morgen: Lockere Einheit im niedrigen Intensitätsbereich mit bewusst niedrigen Glykogenspeichern.
Dieses Protokoll erzeugt starke metabolische Signale (z.B. erhöhte Aktivität von PGC-1α, verstärkte Fettoxidation), sollte aber nur in Phasen mit guter Gesamtregeneration und nicht in unmittelbarer Wettkampfnähe eingesetzt werden.
Wichtig: Erst Basis, dann Periodisierung
Podlogar & Wallis betonen: Fuel for the Work Required ist ein Fortgeschrittenen-Tool. Erst wenn Trainingsumfang, Struktur und Basisernährung stabil sind, lohnt es sich, gezielt mit Low-Carb-Sessions zu arbeiten. Zu frühe Restriktion kostet mehr Qualität, als sie an Anpassung bringt.
Konkrete Umsetzung in deinem Trainingsalltag
Die Theorie ist klar. Entscheidend ist, wie du Kohlenhydrat-Periodisierung im Alltag umsetzt, ohne dich in Rechenmodellen zu verlieren.
1. Einfache Daumenregeln für die Kohlenhydratmenge
- Ruhe- & sehr leichte Tage: 2–3 g KH/kg – Fokus auf Protein, Gemüse, gesunde Fette.
- Niedrigintensitätstage (GA1 / Zone 2): 3–4 g KH/kg – optional Low-Carb-Sessions.
- Gemischte Tage mit moderaten Intensitäten: 4–6 g KH/kg.
- Hochintensitätstage & Schlüsseleinheiten: 6–8 g KH/kg, plus 30–60 g KH pro Stunde während der Belastung.
- Wettkampfspezifische Tage / sehr lange Einheiten: 8–10 g KH/kg, je nach Dauer und Intensität.
2. Beispielwoche für fortgeschrittene Ausdauersportler
- Montag – Off / sehr leicht: 30–45 Minuten locker, 2–3 g KH/kg, Fokus auf Regeneration.
- Dienstag – Intervalle (z.B. 5x5 Minuten über Schwelle): High-Carb, 6–8 g KH/kg, 30–60 g KH/h während der Einheit.
- Mittwoch – GA1-Run 40-50 Minuten: 3–4 g KH/kg, optional mit nur kleinem Frühstück.
- Donnerstag – Tempodauerlauf oder Sweetspot-Session: 5–7 g KH/kg, moderate Kohlenhydratzufuhr.
- Freitag – Locker / Technik: 2–3 g KH/kg, Fokus auf Protein & Mikronährstoffe.
- Samstag – Langer Ride (3–4 h, Zone 2): 4–6 g KH/kg, 30–40 g KH/h, eher fettbetont.
- Sonntag – Brick (2 h Rad + 40 min Lauf): 6–8 g KH/kg, 40–60 g KH/h auf dem Rad, ggf. Gel beim Lauf.
3. Warnsignale, dass du zu aggressiv periodisierst
- Du brichst regelmäßig in Intervallen ein oder schaffst die geplanten Vorgaben nicht.
- Schlaf wird schlechter, du bist morgens erschöpft oder ständig hungrig.
- Gewicht sinkt ungewollt, Zyklusunregelmäßigkeiten oder Libidoverlust treten auf.
- Du wirst häufiger krank oder fühlst dich permanent "angeschlagen".
In diesen Fällen solltest du Kohlenhydratzufuhr und Gesamtenergie hochfahren und ggf. medizinischen bzw. ernährungsmedizinischen Rat einholen.
Praxisregel: Qualität & Gesundheit zuerst
Kohlenhydrat-Periodisierung ist ein gutes Werkzeug, aber nur, wenn Trainingsqualität und Gesundheit nicht leiden. Wenn du merkst, dass Einheiten auseinanderfallen oder du dich dauerhaft müde fühlst, skaliere zuerst hoch, nicht weiter herunter.